Wie Gewalt den Alltag von Kindern in Ecuador verändert
Wenn Vacunas wirklich Angst machen
Vacuna, das ist das spanische Wort für Impfung. In der Agenda 2023 der Vereinten Nationen und den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung spielen Schutzimpfungen für alle Kinder eine zentrale, lebensrettende Rolle. Sie sollen Kindersterblichkeit reduzieren und die Ausbreitung gefährlicher Krankheiten spürbar eindämmen.
In den Armenvierteln ecuadorianischer Städte verursacht die Ankündigung von vacunas hingegen bei Kindern und Erwachsenen geradezu Panik: „Wenn die Männer nachts gegen die Türen hämmern, müssen wir Kinder uns ganz schnell hinten im Haus verstecken“, berichtet die achtjährige Mia. Die schwerbewaffneten Besucher kommen einmal in der Woche, um ihre Schutzgeldzahlungen, die sie selbst zynisch vacunas nennen, zu kassieren. Im dichtbevölkerten Sektor Isla Trinitaria südwestlich Ecuadors größter Stadt Guayaquil beträgt der „Familien-Tarif“ für das wöchentliche Zwangsgeld zwei US-Dollar. Wer einen kleinen Kiosk oder einen taller, eine Reparaturwerkstatt, betreibt, oder wer vom Verkauf selbst zubereiteter Süßigkeiten, Kuchen oder kleinen Mahlzeiten lebt, der muss deutlich mehr bezahlen.
Wer nicht zahlen kann, verliert Kinder oder Bleibe
Entziehen können sich die Menschen den brutalen Erpressungen durch Gangsterkartelle wie Los Tiguerones (die Tiger), Los Lobos (die Wölfe) oder Ecuadors mächtigstem kriminellen Syndikat Los Choneros (benannt nach der Stadt Chone in der Provinz Manabí) nicht: „Wer nicht bezahlen kann, hat im Grunde nur zwei Optionen.“, erklärt der Sozialwissenschaftler und Leiter des Kindernothilfebüros in Ecuador, Mauricio Bonifaz: „Entweder eines seiner Kinder von einer der Gangs rekrutieren zu lassen und so zu einem kleinen Rädchen dieser unheimlichen Maschinerie zu werden. Oder aber alles aufzugeben und mit der ganzen Familie bei Nacht und Nebel aus dem Viertel zu fliehen.“
Die, die bleiben und sich auf die vacunas-Zahlungen einlassen, haben trotzdem keinerlei Garantie, nicht doch Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden – oder in ständiger Angst zu leben: So wie die 4.000 Kinder aus dem Sektor Socio Vivienda II, die dort in die größte Schule dieses Armenviertelstadtteils von Guayaquil gehen. Als es Mitte des Jahres bei einem Schusswechsel zwischen zwei rivalisierenden Gangs unmittelbar vor der Schule Tote und Verletzte gab, entschieden die Lehrer, alle Kinder noch während des Feuergefechts nach Hause zu schicken und sich selbst in Sicherheit zu bringen. „Unfassbar! Aber diese Episode belegt“, so Bonifaz, „welche Dimension der Kontrollverlust von Institutionen in den Armenvierteln der großen Städte inzwischen erreicht hat.“
Dazu passt auch, was ein Offizier der ecuadorianischen Nationalpolizei vor einigen Wochen in einem Presseinterview einräumte: „Wenn ein Notfallanruf eingeht und von Schüssen die Rede ist, fahren wir in die andere Richtung, möglichst weit weg von dem Ort, an dem gekämpft wird.“ Inzwischen wurde die örtliche Polizeistation komplett aufgegeben und auch der Gesundheitsposten musste schließen, nachdem das Personal immer wieder selbst Opfer von Angriffen wurde.
Eine fatale Entwicklung
Bonifaz, der die Unterwanderung von Politik, Justiz und Gesellschaft seit langem mit wachsender Sorge beobachtet, sieht den Kipppunkt für diese Entwicklung in einem Wechsel des operativen Geschäftsmodells der Drogenkartelle, die Ecuador seit den siebziger Jahren als Transitland für ihre Kokainexporte nach Europa und Nordamerika benutzen.
Produziert werden die Drogen in Kolumbien und Peru. Über die ecuadorianischen Häfen Guayaquil, Manta, Puerto Bolívar und Esmeraldas an der Pazifikküste führen die Routen zu den Konsumenten. Jahrelang wurden alle Beteiligten an diesem Geschäft - Spediteure, Hafen- und Zollpersonal, Helfershelfer*innen und Informant*innen in der Polizei, bei Staatsanwaltschaften und Gerichten sowie Abgeordnete und Kompliz*innen innerhalb des Regierungsapparats - in US-Dollars bezahlt.
Doch nach und nach begannen verschärfte internationale Kontrollen der globalen Geldflüsse zu wirken. „Also stellten die Kartelle die Bezahlung einfach auf Naturalien, sprich Drogen, um“, erklärt Bonifaz, „dafür musste aus einem Transitland ein Konsumentenland mit der entsprechenden Nachfrage werden.“ Interpol hat errechnet, dass zu den 800 jährlich durch Ecuador geschleusten Tonnen Kokain inzwischen 80 Tonnen kommen, die im Land selbst konsumiert werden – und für die dafür ein Markt geschaffen werden musste.
„Heute schätzen wir“, so Mauricio Bonifaz, „dass an diesem System, das mit seinen Kapillaren bis in die abgelegensten Dörfer an den Steilhängen des Chimborazo oder in das Amazonas-Tiefland reicht, über 50.000 vor allem junge Männer beteiligt sind, aber auch Kinder und Jugendliche, die als Kuriere und Informant*innen eingesetzt werden.“ Sie alle gehören einer der ecuadorianischen Gangs an, die untereinander – aber oft auch in Allianzen mit den ganz großen internationalen Playern in diesem Geschäft, den Kartellen von Sinaloa und Jalisco Nueva Generación (Mexiko), Norte del Valle und Oliver Sinisterra (Kolumbien) oder dem Tren de Aragua (Venezuela) – bis an die Zähne bewaffnet um Macht, Territorien und Marktanteile kämpfen.
Längst geht es dabei nicht mehr nur um Drogen und ihre Vermarktung, sondern auch um andere kriminelle Geschäftsfelder wie Entführungen zur Lösegelderpressung, Auftragsmorde, Menschenhandel und eben das flächendeckende Eintreiben von vacunas.
Es trifft - wie immer - die Kinder
Falsche Perspektiven
Es sind vor allem die Kirchen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft mit einem kirchlichen Hintergrund, die mit aller Kraft dagegen ankämpfen, dass dieses Abgleiten in einen von Drogen-Gangs bestimmten Alltag und – als Antwort darauf - gelegentlichen, live im Fernsehen übertragenen brachialen Militäreinsätzen auf den Straßen, die Zukunft einer ganzen Generation bestimmen.
Nach dem berüchtigten Zwischenfall mit dem Feuergefecht vor der Schule von Socio Vivienda II arbeitete das Team der Kindernothilfe-Partnerorganisation JUCONI (Fundación ¡Junto con los Niños y Niñas!) wochenlang mit Lehrerinnen und Lehrern – aber auch den Kindern und Eltern - an einem Schutzkonzept, dem Einüben von Alarmplänen und Evakuierungsstrategien, um Kinder nicht noch einmal der tödlichen Gefahr auszusetzen, mitten in einen Schusswechsel zu geraten. Dazu kommt eine intensive therapeutische Arbeit mit Kindern und Erwachsenen, die Gewalt unmittelbar erlebt haben. Und es geht um Techniken zum Selbstschutz, das Erkennen von Gefahren und das bewusste Vermeiden von Risikosituationen.
Das Team der Salesianer, das sich seit über anderthalb Jahrzehnten – unterstützt von der Kindernothilfe - mit und für Kinder aus afroecuadorianischen Familien im Armenviertel Nigeria auf der Isla Trinitataria engagiert, hat es geschafft, sein Gemeinschaftszentrum „Juanito Bosco“ zu einem auch von den Gangs respektierten Schutz- und Fluchtort zu machen, indem es von Anfang an immer auch Kinder aus Familien, die zu einer der kriminellen Gruppen im Viertel gehören, aufnahm – und den Kontakt zu ihren Eltern nicht abreißen ließ: „Allerdings unter glasklaren Bedingungen“, sagt Mauricio Bonifaz, „keine Waffen und Drogen auf dem Gelände, keinerlei Auseinandersetzungen oder Anwerbeversuche im Zentrum.“ Bis jetzt trägt dieses Konzept: „Schon allein das“, so Bonifaz, „ist in diesen Zeiten wie ein kleines Wunder.“
Von Jürgen Schübelin
Der Sozialwissenschaftler leitete 21 Jahre das Kindernothilfe-Referat Lateinamerika und Karibik. Auch im Ruhestand engagiert er sich weiter für Kinder und ihre Rechte.