Kindernothilfe Österreich. Kindern Zukunft schenken.

Was wird der Regierungswechsel in Brasilien bringen?

Seit 1.1.2023 hat Brasilien eine neue Regierung. In seiner 3. Präsidentschaftsperiode möchte der 77-jährige Luiz Inácio „Lula“ da Silva einen demokratischen Neustart für sein Land durchsetzen. Doch die Herausforderungen und Probleme sind gewaltig.
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Neustart in Brasilien? (Foto: Kindernothilfe)
Was wird die Zukunft bringen? (Foto: Kindernothilfe)
Neustart in Brasilien? (Foto: Kindernothilfe)
Was wird die Zukunft bringen? (Foto: Kindernothilfe)

Seit 28 Jahren beginnen und enden in Brasilien die verfassungsmäßigen Amtszeiten der Staatsoberhäupter immer am Neujahrstag. Soweit die Tradition! Aber an diesem 1. Januar 2023, an dem der 77jährige Luiz Inácio „Lula“ da Silva seine dritte Präsidentschaft nach 2003 und 2007 antritt, ist in dem größten, bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich wichtigsten Land Lateinamerikas nichts „normal“. Die gewaltigen Herausforderungen und Probleme, die den Versuch eines demokratischen Neustarts in Brasilien, zu dem am 1. Januar auch Präsidenten und Staatsgäste aus über 60 anderen Ländern angereist waren, belasten, könnten nicht größer sein!

Bis noch vor wenigen Tagen hatten Parteigänger des abgewählten Präsidenten Bolsonaro vor Kasernen und Militärinstitutionen demonstriert, um die Streitkräfte aufzufordern, den Amtswechsel mit Waffengewalt zu verhindern. Und nur der Aufmerksamkeit eines Tanklastwagenfahrers war es zu verdanken, dass die Polizei am Weihnachtsfeiertag den Terroranschlag eines militanten Bolsonaro-Anhängers auf den Flughafen der Hauptstadt Brasilia verhindern konnte. Bolsonaro selbst hat sich zwei Tage vor dem Ende seiner Amtszeit mit einem Teil seines Kabinetts – angeblich auf Anraten seiner Anwälte – nach Florida, in die USA, abgesetzt. 

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Noch einmal davon gekommen?

Wie tief es um die Spaltung und die unüberbrückbaren Abgründe zwischen den politischen Lagern im Land bestellt ist, hatte der zurückliegende Wahlkampf deutlich gemacht: Nie zuvor  seit 1985, dem Ende des Militärregimes in Brasilien, gab es ein derart enges Kopf-an-Kopf-Rennen! Mit gerade einmal 50,9% der Stimmen holte sich der Sozialdemokrat „Lula“ da Silva und das ihn unterstützende Parteienbündnis um die PT (Partido dos Trabalhadores) in der Stichwahl am 30. Oktober 2022 zum dritten Mal das Mandat als Staatspräsident. Für seinen Kontrahenten und Erzfeind, den rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro, stimmten nach einem von Gewalt, Verleumdungen und Fake News beherrschten Wahlkampf 49,1%. Nur acht Monate zuvor hatte das Oberste Bundesgericht Brasiliens Lula den Weg zu einer erneuten Kandidatur freigemacht, indem es vier hochumstrittene Korruptionsurteile annullierte, die Lula eine zwölfjährige Haftstrafe, von der er am Ende nur 580 Tage absaß, eingebracht hatten. 
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Der Wahlkampf bestimmt den Alltag (Foto: Kindernothilfe)
Der erbitterte Wahlkampf bestimmt Monate lang den Alltag in Brasilien (Foto: Kindernothilfe)
Der Wahlkampf bestimmt den Alltag (Foto: Kindernothilfe)
Der erbitterte Wahlkampf bestimmt Monate lang den Alltag in Brasilien (Foto: Kindernothilfe)

Ein Wahlkampf mit Folgen für die Kinder

Die Teams der beiden Kindernothilfe-Büros in Belo Horizonte (zuständig für die Begleitung und Beratung der Projektpartner in Zentralbrasilien – sowie in den beiden Megacities São Paulo und Rio de Janeiro) und in Recife (für den Nordosten und Norden) hatten bereits während des gesamten Jahres 2022 eindringlich vor den Konsequenzen eines – vor allem seitens der Parteigänger von Präsident Bolsonaro mit ungehemmtem Hass und der Bereitschaft auch zu physischer Gewalt gegen ihre Gegner – geführten Wahlkampfes gewarnt.

Christiane Rezende, Psychologin und Koordinatorin des Kindernothilfe-Teams in Belo Horizonte, berichtete im September von zutiefst verstörten und verunsicherten Kindern aus favelas, ihren Einschlafproblemen, dem Abfall bei den schulischen Leistungen und der Angst der Kinder vor dem Weg in die Schule – und danach zurück nach Hause, aber auch von den von Psychologinnen und Psychologen beobachteten Wirkungen von Fernseh-, Radio- und Social Media-Kampagnen auf Kinder, in denen vor allem das Lula-Lager rund um die Uhr diabolisiert – und eine Art Endzeitstimmung im Fall eines Wahlerfolgs des 77Jährigen heraufbeschworen wurde. 

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Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Kindernothilfe-Partner)
Die Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Jürgen Schübelin)
Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Kindernothilfe-Partner)
Die Gewalt gegen Kinder ist stark gestiegen (Foto: Jürgen Schübelin)
Ihre Kollegin Flávia Silva aus dem Kindernothilfe-Regionalbüro in Recife beschrieb in einem Interview von Anfang November, vor welchen Herausforderungen die KNH-Partnerorganisationen im brasilianischen Nordosten stehen würden, um bei der Arbeit mit den Familien und den Kindern in den Projekten die Gesprächsfäden etwa zu Familien aus evangelikalen Kirchen, die sich für Bolsonaro engagiert hätten, nicht abreißen zu lassen. Ganz oft sind die von Nichtregierungsorganisationen mit Unterstützung durch die Kindernothilfe getragenen Sozialprojekte mit Kindern und Jugendlichen die letzten verbliebenen Brücken und Begegnungspunkte, oder, wie es Flávia Silva formulierte: „Gesprächsinseln, an denen es zumindest ein gemeinsames Anliegen gibt, nämlich die Sorge um den Schutz und die Zukunftschancen der Kinder.“
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Appell an die neue Regierung: Transparentes Handeln ohne Korruption

Auf der politischen Ebene erwarten die verschiedenen Netzwerke der brasilianischen Kinderrechtsorganisationen, in denen sich auch die Kindernothilfe-Partnerorganisationen engagieren, von der neuen Koalitionsregierung unter Lula und den an diesem Bündnis beteiligten Parteien, das staatliche Engagement für die unter Bolsonaro komplett vernachlässigten und durch Ressourcen-Kürzungen extrem geschwächten Instrumente des brasilianischen Kinder- und Jugendrechte-Statuts (ECA) sehr schnell wieder hochzufahren und auszubauen. Nur auf diese Weise, so Christiane Rezende, gibt es eine Chance, um über die kommunalen Kindesschutz- und Kinderechte-Ombudsstellen der während der Covid-19-Pandemie-Jahre massiv angewachsenen Gewalt gegen Kinder in den Familien und in den Stadtteilen etwas entgegen zu setzen. 
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Kinderzeichnung für den Frieden (Foto: Jürgen Schübelin)
Der kleine Samuel aus dem Projekt des Partners IFAN Atitude Legal aus Vila Velha bei Recife fordert Frieden (Foto: Jürgen Schübelin)
Kinderzeichnung für den Frieden (Foto: Jürgen Schübelin)
Der kleine Samuel aus dem Projekt des Partners IFAN Atitude Legal aus Vila Velha bei Recife fordert Frieden (Foto: Jürgen Schübelin)

Fast noch elementarer ist die Erwartung, dass es der dritten Regierung Lula trotz heftiger Haushalts-Schieflage-Probleme gelingt, dem erneuten Abrutschen von Millionen brasilianischer Familien in die extreme Armut und den Hunger schnell durch couragierte Sozialprogramme entgegen zu treten – und damit auch die Lage von immer mehr Kindern in prekären Lebenssituationen wieder zu verbessern. Dass die Chancen dafür sehr viel schlechter stehen als 2003, zu Beginn des ersten Lula-Mandats, ist den Teams der Kindernothilfe-Partnerorganisationen bewusst: Anders als vor zwanzig Jahren befindet sich die brasilianische Wirtschaft 2023 in vielen Bereichen auf Talfahrt und geht es auch den Ökonomien wichtiger internationaler Abnehmer brasilianischer Rohstoffe und Exportprodukte – wie etwa China – nicht gut.

„Aber wir vertrauen jetzt erst einmal einfach darauf“, sagt Flávia Silva, „dass sich der politische Umgang der Verantwortlichen miteinander auf Bundes- und Bundesstaatenebene etwas normalisiert, Aushandlungsprozesse wieder möglich werden und in allen Ministerien professionell gearbeitet wird.“ Und dann gibt es noch eine ganz wichtige weitere Erwartung, die auch mit den Kinderrechten zu tun hat: „Was wir jetzt so dringend brauchen“, so Flávia Silva aus dem Kindernothilfe-Nordost-Büro, “ist gutes, transparentes Regierungshandeln ohne Korruption – und ein Lernen aus den Fehlern der beiden ersten Perioden der PT-Regierungen.“ 

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Von Jürgen Schübelin, Lateinamerikaexperte

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