Schüsse auf ein Kind – ein Armenviertel zwischen Schock und Wut
Autor: Jürgen Schübelin
Mit wachsender Beklemmung beobachten Valentina Campos und Rosani Lagos vom Kindernothilfe Österreich-Partner-Projekt „Nuestra Señora de la Victoria“ seit langem den schleichenden Transformationsprozess der - seit 1957 und ihrer Gründung nach einer Landbesetzung durch wohnungssuchende Familien - für ihre Selbstorganisation und Nachbarschafts-Solidarität legendären Población La Victoria. Schon 2022 hatte es Valentina Campos so formuliert: „Es ist, als ob wir ungebremst in einer Achterbahn sitzen würden, in der die Kurven immer enger und die Abstürze immer steiler werden.“
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La Victoria, zwei Tage vor Sylvester, kurz nach acht: ein typischer Hochsommerabend in einem chilenischen Armenviertel mit vielen Menschen draußen auf der Straße. Weil er zu einem neuen Song für sein social media-Portal einen Videoclip produzieren wollte, kam einem jungen Musiker die Idee, drei Mädchen auf der Straße anzusprechen und sie einzuladen, spontan an Ort und Stelle zu seiner Musik zu tanzen. Viele Passanten blieben stehen und schauten zu. Niemand achtete auf den Pickup, der auf die Gruppe zufuhr. Plötzlich - ohne jegliche Warnung - begannen die Männer aus dem Fahrzeug heraus mit Schnellfeuerwaffen auf zwei kolumbianische Jugendliche zu schießen. Die Beiden waren sofort tot. Acht Personen wurden durch die Schüsse verletzt, darunter Mayra Castillo (13), eines der drei tanzenden Mädchen. Alle Versuche, ihr Leben zu retten, blieben vergeblich. Noch in der Nacht erlag sie im benachbarten Hospital Barros Luco ihren Verletzungen.
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Im Schockzustand
Nicht nur für ihre Familie, sondern auch für die Kinder und Jugendlichen aus dem Zentrum „Nuestra Señora de la Victoria“, für das Mitarbeiterinnen-Team und für die gesamte Nachbarschaft war der Tod von Mayra ein Schock, der bis heute nachwirkt. Die sensible, immer vor kreativer Energie sprühende 13jährige verbrachte seit ihren Kindergartenjahren jede freie Minute in dem Kindernothilfe Österreich-Partner-Projekt mitten in dem geschichtsträchtigen Viertel La Victoria in der Kommune Pedro Aguirre Cerda im Südwesten der chilenischen Hauptstadt Santiago. Valentina Campos, Direktorin des Kinder- und Jugendzentrums, und ihre Kollegin Rosani Lagos, Verantwortliche für die Stadtteilarbeit des Projektes, wussten sofort, als sie an dieser Nacht des 29. Dezembers von dem Blutbad - wenige hundert Meter vom „Centro Comunitario La Victoria“ entfernt - erfuhren, was jetzt auf dem Spiel stand. Zunächst begleiteten sie Mayras Familie während der bangen Stunden im Hospital, anschließend in die Gerichtsmedizin und dann bei der Beisetzung ihrer Tochter. Hunderte reihte sich in den Trauerzug hinter dem Sarg von Mayra ein und ließen diese Beerdigung zu einem Aufbäumen und Zeichen des Protests der Menschen aus La Victoria gegen die Gewalt in ihrem Viertel und die immer brutaler ausgetragenen Revierkämpfe rivalisierender Drogengangs werden.
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Mayras Eltern hatten inständig darum gebeten, dass es am offenen Grab ihres Kindes trotz der aufgeheizten Stimmung zu keinen Ausschreitungen kommt. Denn bereits unmittelbar nach den tödlichen Schüssen hatten Carabineros, Chiles uniformierte Polizei, mit Tränengas und Wasserwerfern aufgebrachte Nachbarn angegriffen, die spontan gegen die fehlende Sicherheit im Viertel protestierten und den Polizisten vorwarfen, vor den schwer bewaffneten Narko-Kriminellen kapituliert zu haben - oder noch fataler - gemeinsame Sache mit ihnen zu machen. Deshalb geriet die Beisetzung der 13jährigen denn auch zu einem Hochrisikoevent mit jede Menge Polizei-Spezialeinheiten, was jedoch eine Gruppe junger Männer aus einer der La Victoria-Gangs nicht daran hinderte, mit viel Macho-Gehabe ostentativ Präsenz zu zeigen.
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Das Gefühl des Verlusts von Sicherheit und der Ohnmacht angesichts der schleichenden Übernahme der Kontrolle über die vertraute Nachbarschaft durch kriminelle Gangs, die durch den Drogenverkauf und andere schwere Straftaten über sehr viel Geld verfügen, bestimmt, wie Kinder und Erwachsene aus den Armenvierteln chilenischer Städte diese Gewalteskalation vor ihren Haustüren und in ihrem Lebensalltag wahrnehmen.
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