Kindernothilfe Österreich. Kindern Zukunft schenken.

Knarren, Marken-Turnschuhe und Designer-Klamotten: Von der morbiden Attraktivität schwerbewaffneter Gangs

Autor: Jürgen Schübelin

Darüber, wie Kinder und Erwachsene aus den Armenvierteln chilenischer Städte diese Gewalteskalation vor ihren Haustüren und in ihrem Lebensalltag wahrnehmen, geht es im zweiten Teil "Zivilcourage in Chile".

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Hausmauerngemälde "Gewalt" in Santiago de Chile (Foto: Jürgen Schübelin)
Hausmauerngemälde "Gewalt" in Santiago de Chile (Foto: Jürgen Schübelin)
Hausmauerngemälde "Gewalt" in Santiago de Chile (Foto: Jürgen Schübelin)
Hausmauerngemälde "Gewalt" in Santiago de Chile (Foto: Jürgen Schübelin)
2023 lebten in Lateinamerika gerade einmal 8,1 Prozent der Weltbevölkerung. Aber der Subkontinent führt seit Jahren die traurige Statistik von Morden und Tötungsdelikten an - mit vier von zehn tödlich endenden Gewaltverbrechen, die weltweit registriert werden. Auch in Chile, das über Jahrzehnte in Sachen Mordraten bei Ländervergleichen immer relativ weit hinten lag, sorgen vor allem Drogenkriminalität und die Blutspur des organisierten Verbrechen für wachsende Verunsicherung und - direkt damit verbunden - die immer stärkere Dominanz von populistischen und extrem rechten Parteien im politischen Diskurs – auch in den Armenvierteln an der Peripherie von Santiago.
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Gefühl von Unsicherheit und Ohnmacht

Das Gefühl des Verlusts von Sicherheit und der Ohnmacht angesichts der schleichenden Übernahme der Kontrolle über die vertraute Nachbarschaft durch kriminelle Gangs, die durch den Drogenverkauf und andere schwere Straftaten über sehr viel Geld verfügen, ist auch für die Partner von Kindernothilfe Österreich in Chile zu einer der größten Herausforderung für ihre Arbeit geworden. Die Ursachen für die massive Zunahme von Gewalt, denen sich Kinder und Jugendliche, ihre Familien, aber auch die Teams in den Projekten ausgesetzt sehen, sind hochkomplex und vielschichtig: „Eine verhängnisvolle Rolle spielte ganz sicher die Corona-Pandemie mit dem monatelangen Eingeschlossen-Sein,“ ist José Horacio Wood, Direktor der ökumenischen Fundación ANIDE, überzeugt: „Kinder und Jugendliche hatten fast zwei Jahre lang keine Möglichkeit, mit Gleichaltrigen außerhalb ihrer Familien zusammen zu sein. Sie erlebten den ständigen, massiven Stress zuhause und in ihrer Nachbarschaft – aber auch den brutalen Kampf um das tägliche Über-die-Runden-Kommen.“ COVID führte dazu, dass Nachbarn öffentliche Räume nicht mehr gemeinsam nutzten. Dafür übernahmen Gangs fast überall in den dichtbesiedelten Armenvierteln der großen Städte des südamerikanischen Landes die Kontrolle über Straßen und Plätze. 
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Mädchen aus dem Projekt „Niñas y Niños sin Fronteras“  „Lass nicht zu, dass diese Pandemie Dein Herz (schwarz) färbt. Bleib’ zu Hause."
"Lass nicht zu, dass diese Pandemie Dein Herz (schwarz) färbt. Bleib’ zu Hause." (Foto: Jürgen Schübelin)
Mädchen aus dem Projekt „Niñas y Niños sin Fronteras“  „Lass nicht zu, dass diese Pandemie Dein Herz (schwarz) färbt. Bleib’ zu Hause."
"Lass nicht zu, dass diese Pandemie Dein Herz (schwarz) färbt. Bleib’ zu Hause." (Foto: Jürgen Schübelin)
Außerdem stieg während der Pandemie der Konsum von Drogen besorgniserregend an, mit immer dichteren Kuriernetzwerken und ausgefeilteren Techniken der Haus-zu-Haus-Belieferung nach online-Bestellung – ganz im Stil eines Pizza-Service. „Und natürlich wird um diese Märkte und das viele Geld, das hier verdient wird, mit allen Mitteln gekämpft“, so José Horacio Wood: „Dass sich inzwischen in Chile internationale kriminelle Kartelle wie das berüchtigte ‚Tren de Aragua‘-Syndikat aus Venezuela festgesetzt haben und mit lokalen Gangs teils konkurrieren teils kooperieren, hat eindeutig zu einer Brutalisierung dieser Kämpfe um Territorien, Märkte und Macht beigetragen - und zu einer immer massiveren Bewaffnung dieser Banden.“ Die Liquidierung der beiden Jugendlichen aus Kolumbien, die auch der 13jährigen Mayra das Leben kostete, war Teil eines solchen Machtkampfes. 
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"Animita" (Foto: Jürgen Schübelin)
Claudia und José Horacio vor der "Animita", dem Ort, an dem die Familien der drei 2021 in Peñalolén in einem Konflikt mit Drogendealern erschossenen Jugendlichen, die im "El Cobre"-Projekt aufgewachsen sind, erinnern möchten (Foto: Jürgen Schübelin)
"Animita" (Foto: Jürgen Schübelin)
Claudia und José Horacio vor der "Animita", dem Ort, an dem die Familien der drei 2021 in Peñalolén in einem Konflikt mit Drogendealern erschossenen Jugendlichen, die im "El Cobre"-Projekt aufgewachsen sind, erinnern möchten (Foto: Jürgen Schübelin)
Claudia Vera, die ANIDE-Programm- und Projektkoordinatorin, schlägt den Bogen zwischen der Normalisierung der Gewalt auf der Straße, dem, was Kinder an Gewalt in den eigenen vier Wänden erleben und den sich häufenden Episoden von Gewalt durch Eltern gegen Mitarbeitende in Krankenhäusern, Gesundheitsposten, Lehrerinnen und Lehrer – und auch Erzieherinnen in Projekten: „Kinder werden unmittelbar Zeugen, wie schnell Erwachsene selbst bei kleinsten Problemen die Kontrolle verlieren und Diskussionen in physischen Angriffen enden.“ Deshalb ist es für sie auch nicht überraschend, dass immer mehr Lehrerinnen und Lehrer berichten, von Schülern körperlich angegriffen zu werden.
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Zauberstäbe gegen Gewalt

„Einen Zauberstab, um dieser Gewalt in all ihren unterschiedlichen Facetten zu begegnen,“ sagt José Horacio Wood, „gibt es nicht.“ Aber es ist ihm ganz wichtig, das Problem in seiner ganzen Dimension zu sehen: „Wie immer hängt alles mit allem zusammen: Der ‚Erfolg‘ der bewaffneten Gangs in den Vierteln, ihre ‚Attraktivität‘ als Teil einer Macho-Kultur mit der Verheißung von Macht und schnellem Geld, ist auch das Ergebnis eines, extreme Ungleichheit vertiefenden Wirtschaftssystems, das jungen Menschen aus Armenvierteln die Chance auf gute Bildung und ein ordentliches Auskommen verweigert.“ Und, fügt er hinzu, eines Staates, dessen politisch Verantwortliche nie verstanden haben, dass sein Schutzversprechen für alle gelten muss, nicht nur für die Reichsten und Privilegiertesten. 

Letztlich, so die Analyse von José Horacio Wood und Claudia Vera, ist es das von einer Verfassung voller autoritärer Elemente geschützte hyperkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das in Chile der Gewalteskalation – etwa durch bis an die Zähne bewaffneter Drogengangs - Vorschub leistet. „Diese Narko-Kultur, die wir in den Armenvierteln der chilenischen Städte beobachten, fügt sich“, sagt José Horacio Wood, “perfekt in die Verheißungen der Konsumwelt, die uns unablässig propagiert werden, ein.“ Ablesen lässt sich das seiner Meinung nach etwa am Einkaufsverhalten der jungen Gang-Mitglieder: „Zum Shoppen geht es grundsätzlich in die teuersten Malls der Stadt,“ schildert Wood eigene Beobachtungen, „und eingekauft werden dann die hochpreisigsten Marken-Turnschuhe, Uhren und Designer-Klamotten, immer in bar bezahlt - mit großen Scheinen.“ 
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Mit ihren Sozialen Medien-Auftritten feiern sich die Gangs aus La Victoria martialisch (Foto: Jürgen Schübelin)
Mit ihren Sozialen Medien-Auftritten feiern sich die Gangs aus La Victoria martialisch (Foto: Jürgen Schübelin)
Und noch ein Statussymbol ist zum festen Bestandteil dieser Gang-Kultur geworden: Aufwändige Schönheitsoperationen, Brustvergrößerungen, Lippen-Aufspritzen für die Freundinnen der harten Jungs: „Enchulando a las pololas“ – Freundinnen-Aufhübschen, nennt sich das im Szene-Social Media-Sprech. “Wirklich fatal ist“, fügt Claudia Vera hinzu, „dass es den Narko-Gangs gelingt, sich mit ihrem ganzen sexistischen Macho-Gehabe als coole Rebellen, als Systemsprenger zu gerieren – und damit eine unheimliche Attraktivität auf Jugendliche auszuüben.“ Besonders anfällig, in die Fänge einer der Gangs zu geraten, so beobachtet es das Projektteam des „Nuestra Señora de la Victoria“-Zentrums, sind männliche Jugendliche mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, die für sich weder eine schulische noch eine berufliche Perspektive sehen: „Wenn dann bereits 14jährige am helllichten Tag offen auf der Straße mit ihren Waffen herumfuchteln“, fügt Valentina Campos hinzu, „ist das wie ein Adrenalin-Kick, Macht, andere Menschen einzuschüchtern.“ Dazu passt ein makabrer Todeskult: Immer wieder bekommen sie und ihre Kolleginnen von den Jugendlichen zu hören: „Wenn ich erschossen werde, ist es dann eben so, aber vorher will ich noch richtig einen draufmachen und gut leben!“ 
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Mut, Kreativität und Zusammenhalt gegen die Gewalt

Wie verwirrend und gebrochen die Trennlinien zwischen den Lagern in der Población La Victoria mittlerweile verlaufen, illustriert eine groteske Episode aus dem vergangenen Jahr, als aufgebrachte Nachbarn den örtlichen Posten der Carabineros stundenlang belagerten, um gegen die Untätigkeit der Polizei gegenüber den Narko-Gangs im Viertel zu protestieren – und es dann ausgerechnet schwerbewaffnete Bandenmitglieder waren, die die Demonstrantinnen und Demonstranten vertrieben, um einen Einsatz von zu Hilfe gerufenen „Fuerzas Especiales“ der uniformierten Polizei zu verhindern. 

Trotzdem gibt es immer mehr Menschen, die sind nicht bereit sind, sich mit der Zerstörung ihrer Viertel und dieser neuen Normalität von Kriminalität und Tod abzufinden. Doch für den Widerstand gegen die Regeln der Gangs und die Mechanik der von ihnen losgetretenen Gewaltspirale braucht es sehr viel Mut, Kreativität und vor allem Zusammenhalt.
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