Kindernothilfe-Partner in Chile bieten der Gewalt in Armenvierteln Paroli
Autor: Jürgen Schübelin
Alle fünf ANIDE- und Kindernothilfe-Österreich-Partnerorganisationen in Chile haben in den zurückliegenden Jahren als Antwort auf die Präsenz von immer mehr Waffen und blutig ausgetragenen Revierkämpfen zwischen den Gangs gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Bündnissen und Initiativen ganz unterschiedliche Ansätze und Strategien entwickelt, um die Kinder und Jugendlichen in den Projekten bestmöglich zu schützen und sie dabei zu fördern, selbst Akteure gegen die Gewalt um sie herum zu sein.
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Es gibt immer mehr Menschen, die sind nicht bereit sind, sich mit der Zerstörung ihrer Viertel und dieser neuen Normalität von Kriminalität und Tod abzufinden. Für den Widerstand gegen die Regeln der Gangs und die Mechanik der von ihnen losgetretenen Gewaltspirale braucht es sehr viel Mut, Kreativität und vor allem Zusammenhalt.
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La Victoria: Ein Ort der Zuflucht und Hoffnung
In La Victoria standen Valentina Campos, Rosani Lagos und ihr Team jedoch nach diesem fatalen 29. Dezember 2023 zu allererst vor der extrem schwierigen Aufgabe, mit den Kindern im Projekt den Tod ihrer erschossenen Freundin Mayra zu verarbeiten. Claudia Vera und José Horacio Wood von der Stiftung ANIDE sorgten - mit finanzieller Unterstützung durch Kindernothilfe Österreich - dafür, dabei auch auf professionellen therapeutischen Beistand zählen zu können. „Conversatorios“ – frei übersetzt: Nachdenk- und Gesprächsrunden – nennt das La Victoria-Team die neu geschaffenen Formate, um altersgerecht mit den Kindern und Jugendlichen über Trauer und Verlust zu sprechen, aber auch die gewaltfreie Lösung von Konflikten einzuüben. Wie lassen sich Beziehungen untereinander verbessern, wie ist es möglich, zu streiten, ohne sich zu verletzten? Wie gehen wir mit Wut, wie mit Angst um? Und ganz wichtig: Wie können wir uns gegenseitig schützen, auf Gefahrensituationen aufmerksam machen?
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„Ganz entscheidend“, sagt Claudia Vera, „war in dieser Phase aber auch, mutig und lautstark einzufordern, dass Kinder ein Recht haben, sicher und ohne Bedrohung auf den Straßen und Plätze in ihrem Viertel spielen zu können, dort Musik zu machen, sich zu treffen, Spaß zu haben.“ Mit einer Gruppe von Müttern organisiert das La Victoria-Zentrum jeden Freitag Spiel-, Sport- und Kulturprogramme für Hunderte Kinder und Jugendliche im André-Jarlan-Park, der - nach dem 1984 von einem Polizisten erschossenen Pfarrer von La Victoria benannten - einzigen Grünfläche des Armenviertels. Unterstützt werden sie dabei auch vom Radio Comunitario La Victoria, einem der historischen chilenischen Bürgerradios. „Und natürlich geht es mehr denn je darum“, erklärt José Horacio Wood, „alles Menschenmögliche zu unternehmen, um die Kinder und Jugendlichen zu motivieren, täglich zur Schule zu gehen, den Unterrichtsbesuch nicht abzubrechen. Noch nie war eine nachhaltige Bildungsperspektive für diese Kinder so wichtig wie heute!“
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Belén El Cobre: Friedensorte
Im Projekt „Belén El Cobre“, im Südosten von Santiago, rund zehn Kilometer von La Victoria entfernt, wo vor drei Jahren ebenfalls drei Jugendliche, die in dem gleichnamigen Zentrum groß geworden sind, auf offener Straße bei einem Konflikt mit Drogendealern erschossen wurden, nennt das Team diese Wiederaneignung von öffentlichen Räumen: „Friedensorte schaffen!“. Die gesamte Nachbarschaft wird eingeladen, während die Kinder aus dem Projekt einem Platz mitten im Armenviertel verschönern, Wandbilder malen, Ornamente mit bunten Steinen gestalten, Blumen pflanzen. Was auf den ersten Blick wie eine harmlose, sympathische Initiative wirkt, ist in Wirklichkeit ein kreativer Akt von Zivilcourage, weil er, ist Claudia Vera überzeugt, „zeigt, dass das Projekt-Team, die Jugendlichen und ihre Familien nicht bereit sind, sich den Regeln der Gangs und der Mechanik der von ihnen losgetretenen Gewaltspirale zu unterwerfen!“
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Niñas y Niños sin Fronteras: Kinderrechte grenzenlos
im Projekt „Niñas y Niños sin Fronteras“ im Norden von Santiago – einer 2002 gegründeten Organisation zur Verteidigung der Rechte von Kindern aus Flüchtlings- und MigrantInnen-Familien - haben sich Mütter zusammengeschlossen, um „Cuidadoras Colectivas“ zu sein – Frauen, die gemeinsam ein Auge auf die Sicherheit ihrer Kinder haben. Sie begleiten Mädchen und Jungen, wenn sie spät noch auf den Straßen des Stadtteils Independencia unterwegs sein müssen, reden mit Kindern und ihren Eltern über mögliche Gefahrensituationen, trainieren untereinander den Umgang mit Risiko-Begegnungen und informieren das Colectivo-Projektteam und sich gegenseitig über die Präsenz und Aktivitäten von Personen und Gruppen, die ihnen verdächtig vorkommen.
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Aber auch das Sich-Erinnern – und angemessene Orte und Formen dafür – sind wichtig: So entschied das Projektteam des „Nuestra Señora de la Victoria“-Zentrums gemeinsam mit den Jugendlichen und den Eltern, in La Victoria ein Zeichen für mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu setzen und ein Abiturs- und Hochschul-Vorbereitungsprogramm mit und für junge Leute aus dem Viertel aufzubauen. Der Name ist Programm: „Pre-Universitario Mayra Castillo“.
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